Prof. Dr. med. Josef Nöcker

von Ulrich Frucht, Schoco und Kordula Knop

„Man darf nicht nur die Frage stellen, was leistet der Mensch sportlich, sondern man muss vielmehr auch die Frage stellen, was leistet der Sport menschlich?“

J. Nöcker

Josef Nöcker wurde am 18.9.1919 in Düsseldorf geboren, er starb am 5.8.1989 in Leverkusen. Von 1939 bis 1945, Hinweise über die Zeit davor und eine Militärzeit finden sich nicht, studierte er Medizin und promovierte [1]. Die Facharztausbildung zum Internisten an der Medizinischen Universitätsklinik in Leipzig absolvierte er unter dem damaligen Ordinarius Professor Bürger. Zu gleicher Zeit war Nöcker für drei Jahre der wissenschaftliche Leiter des chemischen Laboratoriums dieser Klinik.

Klinische Laboratorien waren zu damaliger Zeit große Abteilungen mit einzelnen, auf bestimmte Untersuchungen spezialisierte Arbeitsplätze. Neben der klinischen Chemie waren meist die Hämatologie und die Blutgruppenserologie ebenfalls den Laboren zugehörig, also die Untersuchungsverfahren, bei denen Blutbilder gemacht oder die Verträglichkeit von Blutkonserven überprüft wurden. Anders als heute gab es keine konfektionierten Tests-Kits, mit denen man in Minutenschnelle, vielleicht auch mit einem Automaten, eine komplizierte chemische Untersuchung durchführen konnte. Alles war Handarbeit mit allen Vor- und Nachteilen. Wenn ein erfahrener Hochschullehrer wie Professor Bürger einen jungen Mitarbeiter über mehrere Jahre dazu abstellte, das Labor zu leiten, war dessen Qualifikation unstrittig vorhanden; es mußte aber auch sicher sein, daß dieser Mitarbeiter die Fähigkeit zur Personalführung besaß, um diesen Großbetrieb störungsfrei zu leiten und zur „Außenvertretung“ des Labors gegenüber den zuweisenden Kliniken geeignet war. Heute würde man von soft skills sprechen, die neben den formalen Voraussetzungen über Erfolg oder Mißerfolg in einer solchen Position entscheiden. Da Labore Dienstleister sind, müssen die Laborchefs gute Moderatoren sein: sie müssen zwischen den Erwartungen der Kliniken und dem Machbaren vermitteln, denn nicht alle Anforderungen sind umsetzbar oder vernünftig.

1950 habilitierte Nöcker sich über das Thema „Die Nährhefe Heil- und Zusatznahrung" und wurde zum Privatdozenten ernannt. 1955 erhielt er eine außerplanmäßige Professur. Von 1957 an war er dann als Extraordinarius der kommissarische Leiter der medizinischen Universitätsklinik Leipzig. 1959 wurde er Chefarzt der Städtischen Krankenanstalten in Leverkusen; in verschiedenen biographischen Notizen wird hierauf kommentarlos verwiesen.

Allein die bisher aufgezeigten beruflichen Etappen belegen eine äußerst erfolgreiche ärztliche Karriere als Internist. Bei Professor Nöcker gab es jedoch mindestens zwei weitere bemerkenswerte Details seines Lebens, die seine Biographie so außergewöhnlich machen.
Er war ein weitsichtiger und innovativer Sportfunktionär und in jungen Jahren auch ein außergewöhnlicher Sportler. Seine Leistungen waren so gut, daß er sich für die Olympischen Spiele 1940 in Sapporo qualifizieren konnte, die wegen des Japanisch-Chinesischen Krieges ebenso wie die Spiele von 1944 kriegsbedingt abgesagt wurden.
Gleich wie die über die Jahrzehnte wechselnden Anforderungen für eine Teilnahme an Olympischen Spielen sein mochten, war es doch zu allen Zeiten eine Elite, die sich aus einer großen Anzahl qualifizierter und leistungswilliger junger Menschen hervortat. Nach dem Krieg nahm Nöcker seine sportlichen Aktivitäten neben seiner Berufstätigkeit noch einmal auf und gewann unter anderem bei der Ostzonenmeisterschaft [12] 1948 in Chemnitz mit der 4x100m Staffel des SV Lindenau 1864.

Die Qualifikation als Wissenschaftler und Leiter des klinisches Labors einer Universitätsklinik, seine klinische Tätigkeit als Internist und seine sportlichen Erfolge machten ihn auf besondere Weise für ein zu damaliger Zeit völlig neuartiges Konzept des Sportfunktionärs geeignet, um die Interessen der Sportler einerseits und die zunehmend von staatlichen und anderen Stellen wie Militär und Polizei ausgehenden Einflüsse andererseits, man spricht gerne verschleiernd von Unterstützung des Sports, zu organisieren und, auch das war neu, zu moderieren.

Lange bevor der damalige Amateurbegriff offiziell geändert wurde, war es im „Ostblock“ Staatsdoktrin, daß der Sport in besonderer Weise die Überlegenheit des sozialistischen Systems belegen mußte. Für die Olympischen Spiele 1956 in Melbourne wurde Professor Nöcker zum gesamtdeutschen Teamarzt gewählt. Diese lediglich äußerlich gemeinsamen Bemühungen der beiden deutschen Staaten waren erst nach langwierigen und zähen Verhandlungen, man könnte auch von Feilschen sprechen, gelungen. Die DDR hatte zu dieser Zeit längst das früher auch „von Moskau“ offiziell geforderte gesamtdeutsche Konzept verlassen. Die „neue Linie“ verlangte nun die Anerkennung zweier Staaten auf deutschem Boden. Die Selbständigkeit der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone mußte jetzt in allen Lebensbereichen demonstriert und durchgesetzt werden.
Im Gegensatz dazu bestand die Bundesrepublik Deutschland darauf, einen gesamtdeutschen Vertretungsanspruch zu besitzen, der bereits bei der Namensgebung auf sprachliche Weise geschickt unterstützt wurde: während die DDR lediglich eine „Deutsche … Republik“ war, hatten sich die drei Westdeutschen Besatzungszonen für ihren Staatsbegriff den Begriff Deutschland gesichert.

Diese Sicht der Dinge, in der Bundesrepublik gab es eine nach dem Diplomaten Hallstein benannte Doktrin, wurde nun nicht nur politisch beim Umgang mit den Staaten der Welt umgesetzt, sie sollte auch auf sportlichem Gebiet gelten. Es war daher ein Erfolg dieser Doktrin, vordergründig als Beschluß des IOC deklariert, der DDR die Teilname an den Spielen 1952 zu versagen. Nach Meinung aller sollte das aber 1956 anders werden. Es wurde daher unter der Bezeichnung GER eine Mannschaft mit Sportlern beider deutscher Staaten hinter einer schwarz-rot-goldenen Fahne gebildet.

Für die gemeinsamen Auftritte der Sportler in Melbourne und auch später haben sowohl die ostdeutsche wie auch die westdeutsche Seite versucht, den Veranstaltungen ihren Stempel aufzudrücken. So konnte die DDR 1956 als Erfolg verbuchen, daß sie nicht nur den äußerst wichtigen Part der medizinischen Gesamtverantwortung, sondern auch die Bekleidung für alle Teilnehmer beisteuerte. Alles was die Sportler trugen, Anzüge, Kostüme, Hemden usw. stammte aus DDR-Produktion. Wie mir Claus von Fersen (CvF) [8], ein Mitglied der damaligen (West-) Deutschen Rudermannschaft, sagte, waren die „Klamotten“ bei ihm und seinen Kollegen keineswegs geschätzt. Ein weiteres Plus für die ostdeutschen Strippenzieher war, daß man einen 37jährigen hoch qualifizierten Sportler und Professor aus Leipzig dem Rest der Welt als Teamarzt präsentieren konnte. Keine Frage, dieser Mann mit seinen Qualifikationen war durch einen „Westler“ nicht zu ersetzten.
Die Mannschaft flog mit SAS in einer Turbo-Prop-Maschine nach Melbourne; so gab es genügend Zeit für Professor Nöcker und CvF, die nebeneinander saßen, sich kennenzulernen. Es war der Beginn einer mehr als dreißigjährigen Freundschaft. Bei den Gesprächen während des Fluges hat Nöcker freimütig seine Unzufriedenheit mit den Verhältnissen geäußert und auch bereits die Möglichkeit einer Flucht „nach Westen“ angedeutet.

In diese Zeit fallen die mehr oder weniger verdeckten Bemühungen beider deutscher Staaten, die hoffnungsvollen Sportler des eigenen Landes medizinisch, also medikamentös, zu „unterstützen“. Auch Nöcker sagte 1980 in einem SPIEGEL-Interview: „Kein Athlet geht heute ohne Vitamingabe an den Start.“ [9] Die „Vitamingaben“ für Sportler sind aus heutiger Sicht keineswegs harmlos gewesen [10], sie sind, wenn auch äußerst schleppend, bis heute Gegenstand strafrechtlicher Ermittlungen. Als einen Protagonisten dieser Szene beschreibt die NZZ Dr. Klümper [4]. Auch für die Erinnerungen von Claus von Fersen an den „Dopingstandort Freiburg“ [4] bedarf es keines Kommentars:

„Zu meiner Zeit, in den fünfziger Jahren, waren beide (Klümper und Keul) noch kleine unbedeutende Assistenzärzte bzw. Studenten, unter Prof. Reindell, dem damaligen Chef der Universitätsklinik. Ich plante damals Sportmediziner zu werden und studierte in Freiburg zwei Semester Sportmedizin,... Ich habe das Studium in Freiburg abgebrochen und bin zur Betriebswirtschaft nach Köln gewechselt. Im Rahmen meiner erfolgreichen Aktivitäten im Rudern wurden mir von den damaligen Sport­medizinern von Klümper und Keul erste Vorschläge mit entsprechenden Medikamenten gemacht, die ich deutlich komplett abgelehnt habe, bedingt aus meinen medizinischen Grundkenntnissen und meines reinen Amateurstatus aus Ratzeburg.“

Gedopte Sportler waren damals offenbar mühelos aufzutreiben. So etwa für eine vom Bundesinnenministerium geförderte Untersuchung der „psychosexuellen Nebenwirkungen von Anabolika auf den Mann", in der die gravierenden Nebenwirkungen von Hormonpräparaten untersucht werden sollten. Die, für diese nie veröffentlichte Studie von Professor Nöcker erforderlichen Pornofilme waren dagegen schwerer zu beschaffen, denn Pornographie war damals noch verboten. Die Filme mußten aus der Aservatenkammer der Kölner Polizei besorgt werden. Heute wäre die Beschaffunglage umgekehrt: niemand ist gedopt und Pornographie ist unbegrenzt verfügbar.

Im Jahr 1959, der Vorgang der „Republikflucht“ wird nirgends so genannt, es wird euphemistisch nur von „Übersiedeln“ gesprochen, war Professor Nöcker überraschend, völlig übergangslos als Chefarzt der Medizinischen Klinik der Krankenanstalten in Leverkusen tätig. Seine außerordentlich guten Beziehungen, heute spricht man von Vernetzungen, waren offensichtlich geeignet, ihm diesen Wechsel zu ermöglichen. An diesem glatten Ablauf ist allerdings einiges bemerkenswert. Leverkusen mit Sitz des BAYER-Konzerns war damals nicht irgendeine beliebige Stadt mit einem Krankenhaus: hier hatte ein Weltkonzern sicher Einfluß auf die Lokalpolitik - ebenso wie auch in anderen Regionen Deutschlands, wie ich aus eigener Erfahrung weiß.

In der DDR gab es seit dem 15. September 1954 den § 8 des Paß-Gesetzes, der einen ungesetzlichen Grenzübertritt zur Straftat erklärte. Wie die Praxis gezeigt hat, war das keine Banalität. Da Gesetze den Menschen aber weder die Lebensplanung noch den Wohnort und schon gar nicht das Lebensgefühl vorschreiben können, gab es seit den vierziger Jahren eine konstante Fluchtbewegung nach Westen.
Um diesen Menschenstrom zu kanalisieren, wurde 1950 in der Bundesrepublik das Notaufnahmegesetz [6] erlassen, das leider oft genug nur dazu diente, die „Brüder und Schwestern von jenseits des Stacheldrahtes“ nur zur Not aufzunehmen.

Für die Einordnung der Flüchtlinge (Flüchtlingsausweise A bis C) mußte ein „Fluchtgrund“ glaubhaft belegt werden. Einer Klassenkameradin aus Leipzig mit einem Einser-Abitur hat man gesagt: „Mit einer Eins in Russisch wären Sie ja wohl besser drüben geblieben.“ Ihre Tätigkeit als Straßenbahnfahrerin in Leipzig (Linie 11), ohne eine vernünftige Aussicht, studieren zu können, wurde als Fluchtgrund zunächst nicht anerkannt.
Wer sich über die Anfänge unserer mehr als 60jährigen Bemühungen um eine Willkommenskultur in Deutschland informieren möchte, kann das im ehemaligen Notaufnahmelager in Berlin in einer kostenlosen Dauerausstellung tun [6]. Ein „Übersiedeln“ nach dem Westen war also keine einfache Sache.

In Deutschland werden Chefarzt-Positionen bis heute nur nach einem langwierigen und detaillierten Prüfungsverfahren vergeben. Gleich wie qualifiziert die Bewerber sind und ob sie sich von einer Universitätsklinik oder einer anderen großen Klinik bewerben - immer sind neben den Fachabteilungen der Krankenhäusern auch politische Gremien in den Stadtparlamenten, den Landkreisen oder den kirchlichen oder gemeinnützigen Trägern am Auswahlverfahren beteiligt. Eine Chefarztwahl ohne jede Öffentlichkeit war damals wie heute nahezu unmöglich. In dieser zwangsläufigen Öffentlichkeit lag für Nöcker aber eine Gefahr, denn bereits der Versuch der Republikflucht konnte bestraft werden. Es ist bemerkenswert wie es Nöcker gelang auch dieses Problem zu umgehen.

Abgesehen von diesen Hindernissen gab es bis 1989 noch ein anderes Problem. Zwar wurden die DDR-Kollegen bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen man sich traf und unkontrolliert reden konnte, immer wieder bedauert und beiläufig „jeder erdenklichen Hilfe“ versichert, falls man sich doch einmal entschließen sollte, die DDR zu verlassen. Die tatsächlichen Abläufe, über die mir betroffene Kollegen berichtet haben, als sie den Schritt schließlich gewagt hatten, waren dann doch völlig anders. Die Erwartungen wurden häufig enttäuscht: plötzlich waren keine Stellen frei, bedauerlicher Weise ließ sich nichts machen. Das betraf besonders die oberen Etagen, also wissenschaftliche Positionen an einer Universität. Anders verhielt es sich mit Eingliederung und Anstellung in Kreiskrankenhäusern, die im Förderbereich des sog. Zonenrandgebietes lagen (diesen amtlichen Begriff hat es tatsächlich gegeben), dort herrschte schon in den siebziger Jahren ein spürbarer Mangel an qualifiziertem ärztlichen Personal. Aber auch von dort habe ich von der Besetzung einer Chefarzt-Position mit einem „Übersiedler“ aus der DDR noch nie gehört.

Alles in allem war es für niemanden einfach, zwischen 1949 und 1989 den Wohnort von Ost nach West oder auch umgekehrt zu wechseln. Wenn also in einer Biographie von „Übersiedeln“ gesprochen wird, als ob es sich um einen einfachen Umzug gehandelt hätte - Umzüge sind schon unter politisch weniger aufregenden Zeiten kein Vergnügen -, dann muß man sich auch mehr als 55 Jahre später irritiert fragen: ist es allein Geschichtsvergessenheit, Absicht, Naivität oder doch Bildungsmangel? Die Frage sei erlaubt: Wem nützt das?

Für Professor Nöcker existierten also alle diese Probleme nicht, er war beruflich sofort bestens untergebracht; so fand er als zukünftiger sportlichen Betreuer von BAYER-Leverkusen dort schon einen Bekannten, Bert Sumser, vor. Zudem übernahm er, nun unter dem Schirm der westdeutschen Sportpolitik, die gleiche Funktion wie zuvor. So hatte man ihm 1964 die sportärztliche Betreuung der gesamtdeutschen Olympiamannschaft in Tokio übertragen. Diesmal hatten die westdeutschen Strippenzieher ihren Coup gelandet: der Republikflüchtling Nöcker war nun auch wieder für die Sportler der DDR verantwortlich. Damals war er aber vermutlich der Einzige, der offiziell mit Sportlern beider Mannschaften reden durfte; die ostdeutschen Sportler jedenfalls hatten striktes Kontaktverbot [7]. Nöckers Funktion auf der Seite des Klassenfeindes war eine sehr dicke Kröte für die Offiziellen nicht nur des DDR-Sports, auch für die STASI. Dort hatte sich die Republikflucht dieses Prominenten so tief in das Gedächtnis das Apparates eingegraben, daß man mehr als zehn Jahre später einem ärztlichen „Informellen Mitarbeiter“ (IM) den Decknamen des damals in Westdeutschland lebenden Republikflüchtlings „Josef Nöcker“ gegeben hatte [11].

1968 und 1972 war Nöcker Sprecher, Chef de Mission, der bundesrepublikanischen Olympiamannschaft, zudem war er Vorsitzender der wissenschaftlichen Kommission im Bundesausschuß zur Förderung des Leistungssportes und 1976 erneut Chefarzt der bundesdeutschen Olympiamannschaft.
Eine bessere, man sollte sagen brillantere Karriere, die sich ausschließlich auf Leistung und Qualifikation und nicht auf Hochdienen als Verbandsfunktionär stützte, läßt sich heute kaum denken.

Was hat nun diese deutsch-deutsche Bilderbuch-Kariere von Josef Nöcker mit Marienbrunn zu tun? Ganz einfach, er und seine Familie waren im Wortsinn bemerkenswerte Nachbarn, die Anfang der Fünfziger Jahre in den Arminiushof gezogen waren. Sie waren für uns Kinder, die sonst immer nur nach Spielkameraden Ausschau hielten und denen Erwachsene egal waren, auf ungewohnte Weise interessant. Sie wohnten in einem der Häuser mit Balkon auf der Vorderseite, Nummer 7, sie waren sehr jung, er Anfang dreißig, sie sicher noch jünger. Beide umstrahlte eine geradezu alarmierende Eleganz. Und so fielen sie aus dem tristen Einerlei der Menschen unserer Umgebung deutlich heraus; es war ein Trost zu sehen, daß es Menschen gab, die keine Messegäste waren und trotzdem so aussahen.
Wir wußten zwar, daß er ein Arzt war, doch niemand wußte genaues, auch nicht, wo er arbeitete. Aus irgendeinem Grunde war uns jedoch klar, daß er etwas „mit Sport machte“, wie mein Freund Dr. Günther Hoffmann (früher Am Bogen 16) heute sagt.

Alles was damals mit Sport zu tun hatte, war nach unserer Ansicht gut. Deutschland als Fußballweltmeister konnte niemand falsch „einschätzen“, die Autobahnen aus der Nazizeit oder die für damalige Flugmodelle verwendeten höllisch lauten Pulstrahltriebwerke, die auch das Antriebskonzept der V1 im Krieg waren, dagegen schon. Professor Nöcker sah auch nicht so verhärmt oder angestrengt aus wie Zátopek - immerhin auch ein bekannter Sportler. Die Nöckers wirkten also eher wie aus einem Film, sie paßten in das Bild der Welt, wie wir sie uns wünschten.

Wenn man bedenkt, wie angespannt die Situation an den Kliniken der DDR damals war, ist es überraschend und außergewöhnlich, daß Nöcker die Zeit fand, sich nicht nur zu habilitieren und eine Kariere als Sportarzt aufzubauen, sondern auch noch ein großes klinisches Labor zu leiten. Als Nachbar schien er für uns Kinder immer die Ruhe selbst zu sein. Nichts an seinem Äußeren zeigte an, welchen Aufgaben er sich gegenüber sah, die allgegenwärtige Abgehärmtheit und Mutlosigkeit schien ihn nicht zu erreichen.

Auch Frau Nöcker hatte ihren Anteil an unserer Bewunderung. Sie betrieb im hinteren Zimmer des ersten Stocks ihres Hauses eine Gymnastik- und Massagepraxis. Es gehörte zur Nachbarschaftshilfe, daß alle Kinder mit einem entsprechenden Rezept versehen zu ihr zum Turnen geschickt wurden. Wie sich Günther Hoffmann erinnert, waren wir Jungs voller Bewunderung für diese elegante Frau, die in einer auffälligen, körperbetonten weißen Kleidung einen Menschen auf einer Massagebank massierte, während wir an der Sprossenwand ein paar Übungen machen mußten.

1959 mitten an einem schönen Sommertag wurde der Fernseher bei Nöckers abgeholt, und Frau Nöcker tönte über den ganzen Arminiushof, so daß es wirklich jeder hören konnte, „Hoffentlich dauert die Reparatur nicht zu lange.“ Schon vor den Sommerferien war dann klar, Nöckers waren abgehauen. Die Sache mit dem Fernseher gehörte zu der damals üblichen Praxis, noch vor der Flucht möglichst alles Wertvolle vor der Beschlagnahme in Sicherheit zu bringen, also der Familie zu überlassen oder bei Freunden und Bekannten unauffällig unterzubringen.

Der Tod von Professor Nöcker ist mehr als tragisch. Im Auto unterwegs wollte er sich eine Zigarette (!) anzünden, hat dabei die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren, ist mit Autobahngeschwindigkeit über die Leitplanke geschleudert worden und dann gegen einen Baum geprallt. Wie mir sein Freund CvF erst kürzlich berichtet hat, wurde er dabei so eingeklemmt, daß er sich, als der Wagen zu brennen anfing, nicht mehr befreien konnte. Auch sein Versuch, sich durch eine geöffnete Seitenscheibe noch Luft zu verschaffen und so Zeit zu gewinnen, hat ihm nichts genützt, niemand konnte ihm mehr helfen.

„Ihnen lieber Claus von Fersen in sportlicher Verbundenheit und zur Erinnerung an sportlichen Gemeinsamkeiten. Ihr Josef Nöcker“; 7.4.1978. Diese Widmung findet sich in der 7. Ausgabe, des Lehrbuches „Die biologischen Grundlagen der Leistungssteigerung durch Training“ [2]; die 8. Ausgabe erschien noch 1989. Auch wenn eine andere Publikation [3] als Nöckers Hauptwerk bezeichnet wird, ist aus meiner Sicht dieses Lehrbuch besonders bedeutend, nicht nur wegen seiner hohen Auflage, sondern auch, weil es ein heute so seltenes „Einmann“-Buch ist. Die übersichtliche und lesbare Verknüpfung der Ergebnisse von fünf Wissenschaftsdisziplinen (Biochemie, Physiologie, Kardiologie, Sportmedizin und Statistik) ist inzwischen selten und macht seine wissenschaftliche Bedeutung deutlich. Nahezu beiläufig äußert er sich aber auch über zwei heute noch hochaktuelle Themen, und dabei werden auch seine menschlichen Qualitäten sichtbar:

„Die sportliche Leistung in der Jugend ist kein Kapital, das sich im Alter automatisch verzinst, sondern sie muß immer wieder neu erworben werden.“

„...,daß es nicht so sehr die körperlichen Belastung ist, die das Kind der Gefahr der Überbeanspruchung aussetzt, sondern in erster Linie die psychologische Überlastung und der nicht immer gewährte Wechsel zwischen Belastung und Erholung.“

Literatur
  1. Nöcker, Joseph: 1945, Der Einfluß körperlicher Belastung auf den Eiweißstoffwechsel. Jena
  2. Nöcker, J: 1977, Die biologischen Grundlagen der Leistungssteigerung durch Training, Schorndorf
  3. http://de.wikipedia.org/wiki/Josef_N%C3%B6cker
  4. http://www.nzz.ch/sport/der-doping-guru-1.18527605
  5. http://www.zeit.de/sport/2013-08/porno-studie-doping-brd
  6. http://www.notaufnahmelager-berlin.de/de/das-notaufnahmeverfahren-671.html
  7. http://www.welt.de/sport/article133183552/Teilweise-war-es-eine-Farce-Wir-waren-wie-Fremde.html
  8. http://de.wikipedia.org/wiki/Klaus_von_Fersen
  9. Der Spiegel, 36/1978
  10. Spitzer G.,Strang, H: 2013 Doping in Deutschland von 1950 bis heute aus historisch-soziologischer Sicht im Kontext ethischer Legitimation, Forschungsprojekt 2009-2012, Humbold Univ. Berlin
  11. Bruce Gary 2012:The Firm: The Inside Story of the Stasi, Oxford University Press,
    ISBN-13: 978-0199896578
  12. http://www.sachsen-lsb.de/sv-lindenau-1848/ftp/la60.pdf

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